Das Nordlicht-Märchen

 

Es war einmal ein feiner Herr von überaus großem Ausmaße auf vier Pfoten. Dieser Herr nannte sich Sultan und war ein echter Alaskan Malamute, wie er immer stolz zu verkünden wusste. Wenn gleich der Herr mit etwas kurzen Beinen ausgestattet war, durfte man ihn in keinster Weise unterschätzen. Sultan trug die Weisheit in sich, innere Stärke zeigt wahre Größe.

 

Dieser Herr lebte schon eine Weile auf einem großem Anwesen mit Haus und eigenem Garten direkt am Rande des Waldes. Auf diesem Anwesen hatte der Herr diverse Bedienstete, die ihn den Hof machten. Sie verstanden sich darauf, Sultan jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie brachten ihm Futter und leckere Kleinigkeiten, reinigten seine Gemächer, führten ihn mehrmals am Tag aus und verwöhnten ihn mit dem Lösen seine Verspannungen, die er sich bei der „harten Arbeit“ zugezogen hatte, die Obacht auf dem Hofe nicht zu verlieren.

 

Eines Tages betrat eine noch unbekannte Person Sultans Reich. Sie meldete sich zum Ausführen an.

„Herrlich!“, dachte Sultan, „wieder jemand, der mir kleine Leckereien bringt und mich nach draußen führt, damit ich meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen kann!“

 

Bei dieser „Lieblingsbeschäftigung“ handelte es sich um das Befeuchten diverser Bäume, Büsche und Grashalme mit seiner ganz persönlichen Duftmarke. Sultan war von äußerst reinlicher Natur, der peinlichst gewissenhaft seine tägliche Markierungsarbeit in seinem Territorium mindestens dreimal am Tag vollführte.

 

Nun gut. Dieser Herr blickte die Spaziergängerin mit seinem gewohnten leicht ignoranten und erhabenen Blick an, als sie sein Reich betrat. Er war schließlich ein Malamute, den brachte man nicht so schnell aus der Ruhe. Aber er gestattete Tanja, so hieß die Spaziergängerin, ihn auszuführen. Als sie unterwegs waren, wurde Sultan positiv überrascht. Tanja ließ den Herrn mit viel Geduld und Ausdauer gewähren, ohne ihn von seiner Arbeit zu unterbrechen, die wichtigen Duftmarken an jeder Ecke zu hinterlassen. So verbrachte Tanja viel Zeit mit Sultan, da auch sie die Spaziergänge sehr genoss.

 

So kam es, dass Sultan und Tanja sich über viele, viele gemeinsame und ausdauernde Spaziergänge langsam näher kamen.Irgendwann, so gestand sich der Herr ein, fing er an, Tanja zu mögen und vermisste sie sogar, wenn sie an einem Tag nicht erschien.

So begab es sich, das Sultan inmitten seines stolzen Anwesen saß und wehmütig an Tanja dachte und Tanja wehmütig Zuhause an Sultan dachte. Doch wenn sie dann kam, passierte es, dass Sultan seine erhabene Malamute-Gelassenheit mal eben kurzerhand vergessen hatte und freute sich wie ein Schneekönig, wenns sie da war.

 

„Schau mal“, sagte sie ihm auf einem ihrer Spaziergänge, „hier hast du alles, was du brauchst: Menschen, die dich umsorgen, ausführen und füttern. Ich, ich muss doch immer arbeiten, lebe in einer engen Wohnung im dritten Stock in der Stadt und hätte kaum Zeit für dich.“

Doch Sultan gab sich mit diesen Worten nicht zufrieden. Er wusste, was Tanja wirklich fühlte und spürte auch ihre Traurigkeit über diese – wie es schien – Ausweglosigkeit eines gemeinsamen Zusammenseins.

Doch Aufgeben kam für einen Malamute nicht in Frage...

 

Eines Tages hatten Tanja und ihr Freund Christian die Idee, Sultan die Möglichkeit zu bieten, sein Duftterritorium etwas auszubreiten. Sie nahmen ihn mit auf einen Ausflug an die Ostsee und übernachteten bei Christian. Doch am nächsten Tag chauffierten die beiden den Herrn wieder in sein Anwesen zurück. Tanja musste sich überwinden, Sultan zurück zulassen, aber nicht ohne weitere Pläne.

 

Ein neuer Ausflug stand bevor, diesmal in die Stadt Kiel mit etwas kultureller Bildung. Sultan genoss die schönen Tage mit gediegenem Spaziergang an der Förde zwischen Tanja und Christian. So geschah es auch, dass die Beziehung zwischen ihm und Christian wuchs und sich etwas ganz eigenes entwickelte, das sich wohl als echte Männerfreundschaft bezeichnen ließ. Wie es nun mal im Leben so ist, auch der schönste Augenblick findet irgendwann sein Ende.

„Muss ich wirklich wieder zurück?“, fragte Sultan diesmal Christian. Doch auch er antwortete genauso kopflastig wie Tanja es immer tat. Die Arbeit, keine Wohnung für einen Hund, keine Zeit, im Nordlicht hat er alles und so weiter... Ach, Sultan konnte das alles nicht mehr hören. War er denn der einzige zwischen den Dreien, der auf sein Herz hörte?

 

Aber auch diesmal, als er auf seinen Hof geführt wurde, beschloss Sultan hartnäckig zu bleiben. Er war schließlich ein echter Alaskan Malamute. Den schiebt man nicht so einfach weg. So bettete er sich in seinem Gemach auf seine Anhöhung, legte den Kopf zwischen seine Pfoten und schmiedete einen Plan, den er bei der nächsten Reise in die Tat umsetzen würde. Sultan wusste, dass dieser kommen würde. Wie immer behielt der Herr Recht.

 

Sylt lautete diesmal das Reiseziel. Was das genau bedeuten sollte, wusste Sultan anfangs noch nicht, aber es war, wie er später selbst erleben durfte, recht angenehm gewesen mit Hotelübernachtung und gescheiten Spaziergängen sowie mit Stadtbummel. Ein Urlaub, wie er sich für einen echten feinen Herrn gehörte.

 

So geschah es, worauf Sultan so lange herumgedacht hatte. Sein Plan hatte funktioniert. Als Tanja und Christian ihn nun zum dritten Mal ins Nordlicht zurückbrachten, verkündeten sie, ihre Lebensumstände an Sultan anzupassen. Der Malamute sollte zu Tanja und Christian in ein neues Reich mit ländlichem Flaire ziehen. Es bedürfe noch etwas Zeit zur Organisation aber zum Ende des Jahres werde Sultan das Nordlicht verlassen.

Kleine Freudentränen bahnten sich an, alle waren über Sultans Schicksal glücklich, wenngleich ein bisschen Wehmut mitklang. Schließlich hatte der Herr immer einen gewissen Sonderstatus in seinem Reich genossen.

 

Was aber nun genau auf Sylt geschah, dass Tanja und Christian nun den Beschluss fassen konnten, wird wohl auf Ewig Sultans größtes Geheimnis bleiben.

 

Am 31.12.2015 war der Tag der Tage schließlich gekommen. Am letzten morgenlichen Rundgang bei rotem Sonnenaufgang schaute Sultan zum letzten Mal auf sein Anwesen, und ließ die Zeit im Nordlicht mit all jenen, die er dort genüsslich um die Pfoten gewickelt hatte, Revue passieren. Ein leichter Ausdruck, vielleicht ein kleines Lächeln spielte sich in seinem Gesicht ab, als er an all jene Menschen im Nordlicht dachte, die sich ihm stets gerne und mit viel Liebe zuwandten.

 

Dann drehte er sich um und kehrte den Nordlichtern seinen Rücken zu, um sein Leben zukünftig gemeinsam mit Tanja und Christian zu verbringen.

 

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklch zusammen bis ans Ende ihrer Tage.